B39: Herzl, Theodor_75 Arthur Schnitzler an Herzl, Abschrift, Seite 10

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13.6.93.
Lieber Freund,
Sie diesen Sommer in Wien zu sehen, wäre mir eine grosse Freude. Ich
selbst dürfte mich kaum von hier entfernen; - abgesehen von der
Zeit Mitte August bis September, wo ich mich in den Dienst des Vater-
landes stellen, d.h. einrücken muss. Wahrscheinlich Bruck.- Sonst
kann ich kaum von hier weg; ohne gerade viel zu thun zu haben, bin
ich gebunden. Jedenfalls haben Sie die Güte, mir näheres über Ihre
Ankunft mitzutheilen, wie üher Ihre Pläne überhaupt.- Ich weiss
auch nicht, ob das Ereignis, welches Sie in Ihrem letzten Briefe
avisieren, bereits eingetroffen ist. Jedenfalls - viel Glück dazu!
Was mich anbelangt, so hab ich mich "derfangen", so gut es ging, u.
versuche da und dort wieder ins Arbeiten zu kommen. Klinik, Praxis,
und das medizinische Journal, das ich leite, nehmen mir viel Zeit
weg, lassen mir aber innerlich eine gewisse Freiheit. Die Praxis
nimmt nämlich auch Zeit weg,ohne dass man Patenten hat, das ist das
arge, und wenn statt 1 oder 2 Leuten 16-20 in die Ordination kämen,
so gäbe das kaum mehr zu tun, und hätte doch seine Vortheile.-
Ich schreibe jetzt meistens spät Abends, so um die Mitternacht he-
rum, im Kaffeehaus. Dort, beim Rathaus, dem Park vis-à-vis.- Es soll
etwas zärtliches und lustiges werden, - der geheime Trieb ist aber
offenbar der; - ich will wieder schreiben lernen. - Zum "Flüchtling
in Berlin muss ich Ihnen noch gratulieren. Ueberhaupt wächst meine
Hochachtung für Menschen, die aufgeführt werden, immer mehr, seit ich
sehe, wie weit der Weg vom Angenommenwerden zum Aufgeführtwerden
ist.- In Prag bin ich über die Moral des Intendanten Dr. Schlesinger
gestolpert, der über das Märchen "empört" war, - und von Berlin aus