B17: Brandes, Georg 17 (2) Schnitzler an Brandes, Seite 39

G.C.F.P.
Wien, 30.11.918.
Lieber und verehrter Herr Brandes,
Darf ich Sie bitten, Herrn Sonne, der Ihnen die herzlichsten
Grüsse überbringt, freundlich aufzunehmen? Er reist in national-
jüdischen Angelegenheiten nach Kopenhagen, und von dort weiter,
und wird Ihnen, wenn Sie es gestatten, allerlei berichten, was Sie
sehr interessieren wird. Jedenfalls werden Sie in ihm einen sehr
klugen, höchst unterrichteten und in bestem Sinne tätigen Mann
Lassen Sie mich Ihnen heute nur flüchtig für Ihren letzten
kennen lernen.
Brief danken - in den nächsten Tagen soll es ausführlicher ge-
schehen - und hoffentlich lässt sich bald schöneres erzählen X
als es heute möglich wäre. Die Meinen sind alle wohl;- und ich
arbeite so gut es geht ;- aber es gelt nicht gut. Immerhin erhalten
Sie eine neue Nevelle von mir zugeschickt! Von Herzen
Arthur Schnitzler
XVIII Sternwar
Wien, 16. Augus
Lieber und verehrter Freund, mit Freud les ich aus Ihrem Brief, dass Sie
arbeiten und sich wohl befinden. Wann aber werden wir, die hicht dänisch
gverstehen, Ihre neuen Bücher kennen lernen? Goethe, Voltaire, Julius
Caesar - keines von den dreien ist meines Wissens in deutscher Sprache
erschienen oder bisher nur angekündigt.
Verzeichen Sie mir, dass ich mit Bleistift schreibe,- so wird es
leserlicher als mit der Feder (auch die sind während des Krieges hundert-
mal schlechter geworden); und seit einer ziemlich erheblichen Oberarm-
verletzung, die ich im Frühjahr durch einen Sturz über eine Baumwurzel
erlitt und die mir durch ein paar Wochen das Schreiben ganz unmöglich mach-
te, scheint mir, dass die Stahlfeder meiner Schrift noch weniger entgegen-
kommt als früher. Die Sache ist übrigens schon ganz gut. Auch sonst darf
ich über mein Befinden (abgesehen von dem vertreckten Ohr) nicht klagen.
Wir alle bringen uns, materiell, körperlich, seelisch, über diese Zeit
des Grauens und der Schurkerei ganz leidlich fort. Alle d.h. die Meinigen,
nahe Verwandte und Freunde. Die Zustände in Oesterreich, in Wien vor allem,
sind schlimm genug-aber in die Ferne dringen doch alle Nachrichten so con-
centriert, dass man notwendig ein übertriebenes Bild empfängt. Am übelsten
dran ist natürlich der sog. Mittelstand, eine gewisse Sorte von Beamten,
ehemaligen Offizieren, Aerzten, Advokanten, Künstlern,-Rentiers, die sich
mit einer kleinen Rente ins Privatleben zurückgezogen haben und nun, da
alles, nach unserer Valuta 50 - 100 mal theurer geworden ist, langsam ver-
hungern oder wenigstens proletarisieren. Dem sog.Proletariat, dem einstigen
(freilich gibt es auch hier Ausnahmen) geht es besser als je, und man darf
nicht behaupten, dass diese Schicht elhisch ihrem Aufstieg sich gewachsen
zeigt. Aber warum sollten unter den Kanalpapolz, Laternanzündern, Greiss-
lern, Fabriksarbeitern, Lokomotivführern u.s.w.die Parvenus sich besser be-
nehmen als sie es in andern Ständen zu tun pflegten? An den sog neuen
que je ne suis ai pas
Votre très