A220: Der Sekundant, Seite 9

Weise das Siegel seiner eigenen Lebensauffassung, feiner eigentlichen
wiegenden watzerryhthmen, ganz ohne Tempo und Synkope;
im Dunkel. Ich aber — na, will niemand ein Horoskop für ganze
Lebensgläubigkeit trägt —: „der Begriff der Kultur bedeutet für
klang der holde, bekannte Wiener Ton an, bald sentimental, bald
fünfzig Pfennig erwerben? Jeder Tag zeigt Ihnen darin, was
mich, das Dasein des Menschen leichter gestalten, ebenso die
gefühlsstark, doch immer bezwingend durch Herzlichkeit und ge¬
Sie zu tun oder zu unterlassen haben. Dieses Heft wird Ihnen
adelt durch die Kunst der Mitwirkenden, der Sängerin Maria.Eummen des Leidens auf dieser Welt verringern. Er bedattet
der beste Freund werden. Wo gibt es noch selbstlose Freunde
für mich, dafür zu sorgen, daß jeder Mensch in den kurzen Jahr¬
Gerhardt, des brillanten Pianisten Otto Schulhoff und
zehnten, die es ihm vergönnt ist, Gast an der Lebenstafel zu sein,
meine Herrschaften?"
des Orchesters Holzer. — Das löbliche Streben nach originelle
teilhaben mag an dem, was das Dasein reich und köstlich schafft,
Gestaltung der Konzertprogramme, das im Funk gelegentlich zu
Ein Zuhörer zieht aus seinem ärmlichen Portemonnaie fünfzig
und was Menschen ersannen.“ Also ein durchaus persönlicher
beobachten ist, muß durch die entgegengesetzte Tendenz ergänz
Pfennig heraus und legt sie langsam auf den schwarzen Tisch.
Begriff der Kultur, der in seinen Weiten die Schöpfungen der
„Wann sind Sie geboren?“ Und der Schicksalszauberer sucht werden. Es ist kein Nachgeben an den Publikumsgeschmack
geistigen Arbeit und zugleich die Fortschritte der Zivilisation mit
sondern eine grundsätzlich richtige Entscheidung, wenn man sich
das Horoskop aus der Fülle der Hefte heraus.
ihren Kulturwerten umschließt. Von diesem Standort aus ge¬
eine Sängerin wie Lula Mysz=Gmeiner holt, um banal
Das Beispiel des einen hat die Hemmungen der anderen gelöst
winnt Georg Hermann einen Ueberblick über die Fortschritte, die
Zehn — fünfzehn Horoskope werden verkauft. Zehn — jünffzehn Gewordenes zu erneuern. Und wie versteht sie es! Wie bezwingt
die deutsche Kultur den deutschen Juden verdankt. Er nennt
Namen und Werke in stattlicher Zahl, nicht um Lob und An=
erkennung für sie zu ernten oder um den menschlich selbstverständ=
Ahnung, Wissen sogar, auch Empörung, Verstehen, Ver= freizusprechen sei. Agathen aber gelang es tatsächlich, ihn
lichen Anspruch auf Gleichberechtigung zu begründen, sondern um
nicht mit einer Silbe zu unterbrechen. Und erst als Mülling
zu zeigen, daß dieser von den Juden geschaffene Gewinn der
zeihen, ja, vielleicht etwas wie Dank.
geendet, wandte sie sich mit der Frage an ihn, ob schon
deutschen Kultur aus einer starken Liebe zu ihr und zum Leben,
Nun stand auch Mülling in der Türe zwischen Salon und
aus dem Glauben an die Fülle und an den Wert des Lebens
irgendwelche Verfügungen an Ort und Stelle getroffen wor¬
Terrasse, zwischen Schatten und Licht. Sein Auge streifte
den seien. Und als Mülling erwiderte, daß der Leichnam
hervorwächst.
mich wie fragend. Meine Anwesenheit erklärte sich für ihn
spätestens morgen früh von der Behörde freigegeben werden
gewiß ohne weiteres so, daß ich es nicht über mich gebracht
THEATER, MUSIK, KUNST
dürfte, sagte sie: „Ich werde noch heute abend zu ihm fahren.
die unglückliche Frau, nachdem ich ihr die traurige Kund
Mülling riet ihr ab, der heutige Abendzug käme in der
Die Aufführungen von Bruno Franko Komödie „Nina“ im
gebracht, allein zu lassen. Er trat auf sie zu und drückte ihr
kleinen Garnisonstadt erst nach Mitternacht an, sie aber sagte
Vater mit Fritzi Massary sind bis zum 16. Januar
Künstlert
wortlos die Hand. Wieder suchte sie, vorbei an Mülling
nur: „Ich will ihn noch heute nacht sehen“, und es war uns verlängert wo
Maria Koppenhöfer wird in der „Othello“=Aufführung
meinen Blick. Niemand sprach, nicht sie, Aline nicht und
allen klar, daß sie sich noch heute nacht Eingang in die Toten¬
des Staatstheaters am Gendarmenmarkt die Emilia spielen.
nicht Mülling, ich aber, so schien mir, schwieg noch tiefer in
kammer verschaffen wollte. Nun trug sich Mülling an, sie zu
Januar, vorm. 10 U
ginnt am 7.
Dr. Adolf Behne
mich hinein als die andern. Die sommerliche Stille des
begleiten, es seien allerlei Dinge zu besorgen und anzu¬
tragsreihe
kunst in
„Deutsa.
Deutschen
useum ein
Wilhelm
hunderten
(von d
nberger Skulpture
Gartens klang herein. Endlich sagte Agathe — und mir stand
ordnen, die unmöglich Agathe allein durchführen könne. Sie
durch das Deutsche Museum,
mit ersten Führungen gelt.
das Herz still, als sie die Lippen öffnete —: „Nun will ich“
l). Die dre
wehrte mit einer Entschiedenheit ab, die jede Widerrede aus
en durch die Nationalge-
die beiden letzte
sagte sie, „die ganze Wahrheit hören“ — und da sie in den
schloß. „All das gehört mir zu“, sagte sie, „Erst wenn alles
Mienen der Andern Befremden, in den meinen vielleicht
vorüber ist, Herr Doktor Mülling, sprechen wir uns wieder.
KONZERT-SPIEGEL
einen Ausdruck des Erschreckens gewahrte, fügte sie, zu mir
Ich war von Bewunderung und von Grauen zugleich erfüllt
Sie richtete kein Wort an mich. Sie wünschte nun allein zu Donnerstag, 7. Januar: Singakademie: 8 Uhr, Klinglet.
gewandt, in bewunderungswürdiger Ruhe hinzu: „Sie woll
Quartett (Mozart, Beethoven, Brahms).
ten mir gewiß nichts verschweigen, aber Sie haben unwillkür
sein, nur Aline sollte später wiederkommen, um ihr bei den
erstes Sinsoniekonzert
„ 8. Januar: Staatsoper: 8
Reisevorbereitungen behilflich zu sein und Weisungen für die Freitag
lich vielleicht versucht, mich zu schonen. Ich danke Ihnen
Singakademie: 8 Uhr,
Staatskapelle unter Kleiber.
der
Klavierabend Minita Fried.
Aber glauben Sie mir, ich bin nun gefaßt genug, um alles zu
Dauer ihrer Abwesenheit entgegenzunehmen.
Lieder=
nuar: Beethoven. Saal: 8 Uh
hören. Berichten Sie, Doktor Mülling, von Anfang bis Ende
nd, 9.
Sohneu.
Sie drückte uns allen die Hand. Mir nicht anders als Aline
Bechstein = Saal
Uhr.
dertrud
ndernagel.
Ich will keine Frage stellen, ich werde Sie nicht unterbrechen
Dend Poldi Mildner (Werke von Bach, Brahms, Chopin,
und Mülling. Sie wich nicht einmal meinem Blick aus, als
und mit erlöschender Stimme fügte sie hinzu: „Erzählen Sie
Klavierab—
wir schieden.
Januar: Volksbühne: 11.30 Uhr,
r. Maria,
Kün. 10.
Rokokoaben!
Michael
Sie lehnte am Klavier, und ihre Finger spielten mit den
gakademie: 8.15 Ul-
Sie reiste tatsächlich noch am gleichen Abend ab — allein —
fid Brebeck, Isolde Riehl, Marcell
Fransen des Schals, und mit keinem Zucken ihrer Lippen ver¬
e; Mitwirken:
S. Jablonowski, Leo
und brachte den Leichnam ihres Gatten am nächsten Morgen
d Shure. (Mozart: Serenade, Kla=
riet sie sich oder mich, während Mülling erzählte. Aline hatte
nach Wien. Am Tage darauf fand das Begräbnis statt, an
vierkonzert A-dur; Haydn: Theresien=Messe.)
sich auf den Stuhl am Klavier sinken lassen und stützte den
stag. Staatsoper Unter den Linden:
dem natürlich auch ich teilnahm. Agathe war an diesem Tag
oper am Dien
n tutt
mit den Damen Heidersbach, Marherr, Schöne
Kopf in die Hände. In all seiner inneren Bewegung kam
für niemanden zu sehen. An den See kehrte sie niemals wie
Herren Roswaenge, Domgraf=Faßbaender, Fuchs. Musika-
Mülling die berufsmäßige Gewohnheit zustatten, wohlgesetz
und
lische Leitung: Klemperer. Anfang 8 Uhr.
der zurück.
vor der Oeffentlichkeit zu reden. Er berichtete den Verlau
Städtische Oper: „Bohöme“ mit Constanze Nettesheim,
Viele Jahre später begegneten wir einander wieder in
der Angelegenheit, von dem Moment an, da wir beide, Doktor
rene Eisinger, Arthur Cavara, Anton Baumann, Wilhelm Guttmann,
Gesellschaft. Sie hatte indes wieder geheiratet. Niemand,
dwin Heyer. Dirigent: Paul Breisach. Beginn 8 Uhr.
Mülling und ich, Eduard am Bahnhof der kleinen Stadt er
der uns miteinander sprechen sah, hätte ahnen können,
wartet hatten, bis zu dem Augenblick, da Eduard am Waldes
daß ein seltsames, tiefes, gemeinsames Erlebnis uns verband.
rand tot hingesunken war, und es war mir offenbar, da
Verband es uns wirklich? Ich selbst aber hätte jene sommer¬
er seinen Bericht schon ein oder mehrere Male zum besten
stille, unheimliche, und doch so glückliche Stunde für einen
Dieses Jahr kein Katarrh
gegeben, seit wir uns am Tor seines Gasthofs voneinander
Traum halten können, den ich allein geträumt hatte; so klar,
getrennt hatten. Er sprach im übrigen, als hielte er ein
L
so erinnerungslos, so unschuldsvoll tauchte ihr Blick in den
Plädoyer für jemanden, der ein längst abgetanes, ver¬
wenn Du Wÿbur¬
gessenes, schon an sich nicht bedeutungsvolles Vergehen allzu meinen.
nimmst!
90 u. 45 Pf.
Ende
schwer gesühnt hatte, und dessen Andenken von jeder Schuld