A233: Antikritische Bemerkungen zu Das weite Land, Seite 1

Zu “Das Weite Land“
von
Arthur Schnitzler
(aus dem Nachlass)
Das Missverstehen des Titels.
Da alles chaotisch sei, wäre jedes dramatische Gesetz aufgehoben
und jede Unmotiviertheit erlaubt.
Unsinn. In diesem Sinn wäre der Titel dann zu verstehen, wenn
etwa Erna mit dem Portier Rosenstock ein Verhältnis anfinge, wenn
Genia ihren Sohn Peroy umbrächte, wenn Frau Aigner plötzlich vom Theater
abginge, wenn Natter sich mit Hofreiter versöhnte, Wenn Hofreider seine
Fabrik verkaufte, alles den Armen schenkte und Genia um Verzeihung
bäte.
Das wäre "das weite Land" in dem Sinne, wie diese Idioten
vorgeben, es in meinem Stück vorzufinden. Weih Herr Aigner sagt, die
Seele ist ein chaos u.s.w., so ist zu bemerken, dass er kein Philosoph
ist, sondern ein etwas affektierter Aphoristiker; fragt man ihn aber
weiter, so wüsste er über das, was er meint, immerhin genauere Aus-
kunft zu erteilen und ungefähr zu sagen: Die Seele ist ein weites
Land - das heisst nicht, dass sie als ein Gebiet ab-
soluter Gesetzlosigkeit und Willkür aufzufassen ist, sondern dass
die Grenzen der Möglichkeiten im allgemeinen viel weiter gesteckt
sind als die Menschen im allgemeinen wissen oder als sie Meisten
aus Bequemlichkeit sich eingestehen. Und ein Menschenkenner könnte
gerade in diesem Stück die Schicksale aller Personen mit ziemlicher
Sicherheit vorhersagen. Erna liebt Friedrich, daher wird sie seine
Geliebte, Hofreiter erschiesst den Fähnrich, weil er Genia liebt,
und Genia wird die Geliebte des Fähnrichs aus einer ganzen Anzahl
von Gründen, auch aus physiologischen, hauptsächlich aus beleidigten
Stolz, aus dedain.