B52: Körner, Josef, Seite 35


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Rolind aV.XIX DA5
cher Weise. Nach Dilthey ist Dichtung vor allem ein "Organ des Lebensver¬
ständnisses", Mikoskop und zugleich Makroskop des Lebens, sie zeigt dem
Menschen das Wesen und die Möglichkeiten seiner Existenz und hilft so das
Leben verstehen und klären. Hingegen unterscheidet Gundolf streng zwischen
einem Dichten der Gestaltung und einem Dienen der Schilderung. "Beide (ich
zitiere wörtlich) werden oft verwechselt: dichterische Menschengestaltung
ist das Vermögen, innere Gesichte durch Sprache erscheinen zu machen, nach
außen zu entwirken. Menschenschilderung ist das Vermögen, gesammelte Merk-
male aus breitem Beobachtungsstoff, auch Selbstbeobachtungsboff, zu vereini-
gen, zu deuten und zu sagen. Die Beobachtungen mögen Gemilenplätze oder Ent¬
deckungen sein. Sind sie Entdeckungen, so wirkt oft als Schöpfertum, was tie-
feres Wissen ist. So bei Balzac, Dickens, Tolstoi, Dostojewski. Menschenge-
staltung ist a priori, Menschenschilderung a posteriori." Ihr Werk als
das eines Psychologen ist durchaus schildernd; ich würde als Gegensatz etwa
die Namen Jean Paul und Stifter nennen, bei denen Gestaltung durch Sprache
das Primäre ist. Im übrigen wird man gerade bei Prosaschriftstellern selten
gestalterische Dichtung finden, weil diese vor allem im lyrischen Werk lebt;
Schriftsteller, die ohne lyrischen Ehrgeiz, d.h. doch wohl im Allgemeinen
ohne eigene Sprache sind, bleiben eben darum sprachlich konventionell.
Aber ich will wirklich keine Abhandlung schreiben.
G.C.H.F.
Vielmehr komme ich auf den Wingang dieses Schreibens zurück, auf
den Unterschied zwischen objektiver, wertefreier Charakterisierung, wie sie
die Wissenschaft, und einem rein quantitativen Lob- und Tadelerteilen, wie
es die nach Geist und Charakter korrupte Tageskritik unserer Zeitungen übt.
Ich weiß schon lange, und nun hat es mir leider auch Ihr Brief bestätigt,
daß dieser letztere Unfug den schaffenden ein gesundes Verhältnis zur Kritik
fast unmöglich macht. Den wissenschaftlichen Betrachter bewegt nicht Liebe,
nicht Haß, sondern einzig und allein die Lust des Erkennens.
Meine Freude wäre groß, wenn diese bescheidenen und (aus leidigem
Zeitmangel) allzu hastig hingeworfenen Zeilen Einiges zur Klärung beitragen
sollten.
Mit dem Ausdrucke unwandelbarer Verehrung
Ihr Ihnen sehr ergebener
Y
frs.
G.H.P.
R. Perny