B128: Reigen (Verschiedene Korrespondenzen. Harz, S. Fischer), Seite 4

Heidelberg, 14.4.1914.
von Lilienthal.
Sehr geehrter Herr Breuer,
Ihrem Wunsche entsprechend beehre ich
mich Ihnen meine Meinung über Schnitzlers "Reigen"
mitzuteilen.
Bei den Liebesszenen des Buches kommt
kein Liebhaber schlüpfrigen Lesestoffs auf seine
Rechnung. Das wirklich Anziehende liegt ausschliess-
lich auf psychologischem Grunde. Die verschiedene
Haltung der beteiligten Personen ist so vorzüglich
vorgestellt und so künstlerisch fein geschildert,
dass ich das Buch als einen wertvollen Beitrag zur
Seelenkunde ansehe. Schnitzler ist der Versuchung
durch lüsterne Schilderung zu wirken,so sorgfältig
ausgewichen, dass die zehn Dialoge geradezu als Muster
für vornehme Behandlung geschlechtlicher Stoffe er-
scheinen.
Juristisch gesprochen fehlen alle Merk-
male der unzüchtigen Schrift. Es ist in denanlogen
nichts enthalten, was für sich allein geeignet wäre,
das im Volke herrschende allgemeine Scham- und Sitt-
lichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung zu ver-
letzen. Durch die blosse Erwähnung,dass ein Geschlechts-
verkehr stattfindet, geschieht das nicht, sonst wären,
von wissenschaftlichen Verstellungen ganz abgesehen.
neun Zehntel unserer sogenannten schönen Literaten
nach § 184 St.G.B, zu behandeln. Es muss vielmehr noch
hinzukommen, dass die Erwähnung darauf gerichtet ist,
den Geschlechtstrieb zu erregen oder geeignet ist durch
die Darstellung in dem normalen Menschen Widerwillen
oder Abscheu zu erregen. Von beiden ist bei Schnitz-
ler nicht die Rede. Weder will er einen geschlechtlichen
Reiz hervorrufen. noch der Freude am geschlechtlich
Obscönen genügen. Es kommt ihm nur darauf an, das pay-