B17: Brandes, Georg 17 (2) Schnitzler an Brandes, Seite 10

V. F.C. P. v.
Wien, 3. Feber 1897
Verehrtester Herr Brandes,
Sie haben mir einen so herzlichen Brief geschrieben, das
freut mich sehr. Es gehört wohl zu den angenehmsten Erfahrungen,
einem Menschen, der einem längst viel bedeutet hat, sich auch
menschlich nahe zu fühlen. Lassen Sie mich das weiter glauben.
Die Milde, mit der Sie mein Stück beurtheilen, kommt zum
grossen Theil wohl daher, dass Sie merken, ich selbst schätze es
richtig. Ich meine, man schätzt sich und was man macht beinahe immer
richtig, wenn man nur überhaupt auf einem gewissen Niveau steht.
(Wo ist nun dieses Niveau? Da steckt die Schwierigkeit!) Man kennt
sich selbst, und das Streben, nur halb unbewusst, geht dahin, sich
selbst misszuverstehen, was ja freilich nicht angenehmer ist als sich
zu kennen. Das Leben will im allgemeinen doch, dass wir zur Klarheit
über uns gelangen.
Wie kommt es nur, dass Sie mich nach dem Anatol für leicht-
sinnig hielten, jetzt für ernst? Und doch ist vielleicht beides
richtig. Ich bin leichtsinnig in der Art, wie ich in Erlebnisse
stürze und schwerlebig durch die Art, wie sie sich meiner be-
mächtigen. Ich glaube, jeder Mensch hat einen grossen Lebensfehler,
der ihn abhält sein Wesen zur möglichen Vollendung zu bringen; meine
Sünde mag sein, dass ich nicht verstehe, was zu Ende zu leben. Daher
befinde ich mich meist in einem Zustand beträchtlicher innerer
Schlamperei; Dinge, in denen ich eben stehe, sind in Wirklichkeit
vorbei; andere, die lange zu Ende gelebt sind, haben ihren Duft
zurückgelassen - und der Duft von toten Sachen ist nie schön, die
Blumen auf den Gräbern sind eine traurige Ausflucht. Ich glaube mit
dieser unreinlichen ja fast me unmoralischen Art inneren Lebens
hängt es auch zusammen, dass ich beinah in jedem Einzelfall gedank -
+
[incompréhensible]
- 2 -
lich mit allen Möglichkeiten einer Weiterentwicklung fertig bin - und
dass ich den Ereignissen selbst meistens als ein verblüffter gegen-
übersteh. Jetzt eben hab ich manche Verdriesslichkeiten durch zu-
machen, die mich im Arbeiten ja sogar im ordentlichen Lesen stören.
Aber bis zum Frühjahr muss manches in Ordnung kommen, und ich will
Mein bischen fortreisen. Da nehme ich mir Ihren „Shakespeare“ mit,
worauf man sich freut, das soll man in Ruhe zu durchleben suchen;
auch Bücher. Wenn mir was einfällt während der Lecture, werde ichs
Ihnen sagen, da Sie mir das so freundlich erlauben. Dass mir Ihr
Buch gefallen wird, ist sicher; nicht einfach deshalb weil ich
weiss, dass alles was Sie schreiben schön ist, sondern weil alles
was Sie schreiben, Sie sind. Und da ist viel, das ist alles beinah.
Sie selbst haben das heuer in einer dieser wunderbaren Kopenhagener
Stunden so einfach gesagt : „Was einer schreibt und ob er schreiibt, ist
eigentlich gleichgültig, es kommt drauf an, wer schreibt.-“ Sie sag
ten es anders, besser, aber der Sinn war es.
Ihre Briefe haben fast alle etwas Wehmuth, Sehnsucht nach
Einsamkait im Schmerz über Einsamkeit liegt darin, beides. Ja übrigens
gibts denn etwas, was traurig macht oder lustig machte? Ich meine,
was die tiefere Trauer und die echte Heiterkeit gibt? Wir sind wie
wir sind und das Leben hat fast so wenig Macht über uns wie wir übert
das Leben.- Nun aber fange ich an, das Gegentheil von dem zu behaupten,
was am Anfange dieses Briefes steht. Das lässt einen Verdacht gegen
mich selbst in mir neu erwachsen; dass ich nämlich nicht klug, sondern
"geistreich" bin. Es sind wohl nur Anfälle.
Richard Beer-Hofmann bittet mich, Sie herzlichst zu grüssen.