B17: Brandes, Georg 17 (2) Schnitzler an Brandes, Seite 29

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empfinde das viele gute, das mir vom Schicksal beschieden, zuweilen
so stark, dass ich jenes stetig fortschreitende Ohrenleiden, von dem
ich seit 15 Jahren geplagt bin, gern als einen Polykratesring ansehen
möchte - wenn auch als einen allzu werthvollen - und jedenfalls als
einen, den kein Fischer der Welt mir jemals zurückbringen wird, -
Beer-Hofmann mit seiner Frau und seinen drei Kindern wohnt ganz nahe
von mir, in einem sehr schönen Haus, dass ihm der Architekt Josef
Hoffmann gebaut hat, und arbeitet nicht so viel, als er seinem Talent
nach verpflichtet oder verurteilt wäre. Sie sollten wieder einmal her-
kommen, womöglich im Mai - man könnte einander so vieles erzählen;-
in einer Stunde etwas zehn Mal so viel, als in zwei Briefen steht;
das beste, was man von Menschen hat, die einem werth sind, bleiben doch
die zwanglosen Unterhaltungen, die von der ganzen Atmosphäre der Persön-
lichkeit umgeben sind - was ist dagegen die gewollte Condensation und
Präcision eines noch so herzlich intendirten Schreibens? In Briefen
will man was bestimmtes sagen;— man denkt, man berichtet - man bezweckt;-
in Gesprächen lässt man sich und den andern viel reiner leben,- man mag
mit hundert Geheimnissen von einander scheiden;- die Stimme, der Ton-
fall, die Geste geben selbst Befangenheiten, ja Unaufrichtigkeiten
(die zwischen uns nicht zu befürchten sind) jene beste und einzige Wahr-
heit, an der wir uns erlaben dürfen: Gegenwart.
Dies soll Sie natürlich nur bestimmen (o welche Kraft traue
ich schiefen Aphorismen zu!) nach Wien zu reisen - aber Sie ja nicht
abhalten, mich bald wieder durch ein paar geschriebene Worte zu erfreuen.
In herzlicher Verehrung Ihr Arthur Schnitzler
31) (Ansichtskarte)
Partenkirchen, 29.4.11.
Ihre Karte, verehrter Herr Brandes, und die Druckschriften sind
mir nach Menton nachgewandert, u. am Ende meiner Reise, dank ich
und grüss ich herzlichst in alter Treue.
Arthur Schnitzler