B17: Brandes, Georg 17 (2) Schnitzler an Brandes, Seite 42

Wien, 30.1.1922.
Mein lieber und verehrter Freund, es trifft sich gut, dass ich Ihnen auf
Ihren letzten Brief noch zu antworten habe, so darf ich, ganz nebenbei und
gewissermassen unabsichtlich die Gelegenheit benützen und Ihnen zu Ihrem
80. Geburtstag Glück wünschen, von dem Sie natürlich nichts hören wollen.
Aber wenn solche Daten auch nicht viel Sinn haben, - man darf zu einem
solchen Tag rückhaltloser allerlei aussprechen, was sonst vielleicht
pathetisch oder sentimental klänge, und so erlauben Sie mir nur ganz
einfach hier niederzuschreiben; dass unter den Menschen, die älter sind
als ich und denen ich nicht eben durch die engsten verwandtschaftlichen
Bande verknüpft war, kaum Einer ist, dem ich so von Herzen und von Geiste
zugetan war und bin als Ihnen,-Georg Brandes- und der mir- nicht nur durch
seine Werke, sondern durch sein Sein, sein Dasein,-mein Bewusstsein von sei-
ner Gegenwart in der Welt so viel gegeben hat als Sie! Möchten Sie doch
allen die Sie lieben und bewundern, noch lange erhalten bleiben, - und möchte
es das Schicksal fügen, dass wir einander wieder einmal persönlich begegnen.
Was in jenem "Interview" gestanden, weiss ich natürlich nicht;-
mir war es bisher ganz unbekannt, dass mich ein dänischer Journalist inter-
viewt hat;- es waren 2 oder 3 Herren aus Dänemark im Lauf der letzten Jahre
bei mir, und ich habe mich mit ihnen über allerlei unterhalten,-hoffentlich
war das, was diesen Besuchern in Erinn rung verblieben, nicht so confus wie
das Zeug, was ich gleichfalls als "Interview" mit mir, vor einem Jahr in
einer amerikanischen Zeitung zu lesen bekam.- Nun Sie haben wohl ähnliche
Erfahrungen gemacht. Es freut mich schon aus Ihrem Brief zu entnehmen, dass
ich immerhin über Sie, lieber Freund, nichts böses geäusert zu haben scheine.
Mit dem „Reigen“ hab ich freilich allerlei dummes erlebt;- was mir aber kaum
nachgegangen ist. Das schlimmste erfährt man ja immer (auch das wird Ihnen
nicht neu sein) nicht von den Gegnern,- sondern von den Freunden,-die den
besseren Theil der Tapferkeit, die Vorsicht wählen. Aber es ist schon wahr,-
unter den zahlreichen Affairen meines Lebens, ist es wohl diese letzte, in der
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Verlogenheit, Unverstand und Feigheit sich selbst übertroffen haben. (Dabei
gesteh ich ohne weiters zu, dass gegen die Aufführung des “Reigens“ immerhin
auch ehrliche Einwendungen möglich sind-aber solche ehrleichen und disouta-
beln Einwendungen sind eben in hundert Fällen, wo sie auch und besser am
Platze gewesen wären, nicht erhoben worden. Ich lege hier übrigens einen
Artikel bei- das einzige Document, in dem ich mich persönlich zu Worte
habe kommen lassen;- er erklärt sich selbst.
Meine beiden Casanova Sachen, das Lustspiel“Die Schwestern“ und
die Hovelle "Casan.Heimfahrt" sind so entstanden, dass mir zwei Stoffe,
die schon geraume Zeit unter meinen Papiere lagen, durch die Leozüre der Ca-
sanova Memoiren plötzlich zu lebendig geworden sind. Die Beschäftigung damit
bedeutete keine bewusste Abkehr von der Zeit. Zu den Ereignissen selbst
hätt ich natürlich geschwiegen-gelegentlich musste man sich nur melden,
um gegen eine Verleumdung oder gar gegon Miss/brauch seiner Unterschrift
zu protestieren - Überraschungen habe ich eigentlich nicht erlebt,- die
existieren für Unser Einen doch wohl nur in quantitativer Hinsicht.
Die Zustände in Wien sind übel genug,- Die Preissteigerungen
phantastisch 1000 - 2000 fach,- dabei ungeheur viel Luxus;- und mehr stilles
Elend als sichtbares. Die denen es am schlechtesten geht, halten weder Um-
züge noch plündern sie. Wie es weiter gehen soll, weiss niemand. Wirkliche
Hilfe kann natürlich von aussen – auch durch die berühmten Credite, nie und
nimmer kommen,- es müssten die ausserordentlichen inneren national-ökond-
mischen Möglichkeiten unseres Landes mit Energie und ohne jede Rücksicht auf
partei-Politische Interessen ausgenutzt werden;- aber vielleicht ist es
heute schon zu spät dazu. An ein Zugrundegehen von Wien glaub ich nicht (etwa
im Sinne von Venedig-, aber als was es sich erheben und wieder emporblühen
soll- und wann, das vermag ich nicht vorauszusehen.-
In meinen äusseren Verhältnissen- da wo sie schon die innern sind -