V.J.V.
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sonderbar
neuen Lebenshoffnungen, war ihm iegendwie entrückt; als er sich nach
ihr Bild ins Gedächtnis zurückzurufen suchte, erschien es ihm als
das einer nicht mehr ganz jungen, fanierten Person, in unordentli-
chem Morgenanzug, deren Ztige in seltsamer-Weise denen der armen
Klavierlehrerin gliehen; und er spürte einen dumpfen Grolle gegen
sie in sich aufsteigen. Er verübelte ihr, dass sie sich um ihren
Vater nicht genug gekümmert hatte, dass sie in einen alten Musiker
verliebt gewesen war, dass sie Zigaretten rauchte und besodders,dass
sie vom Semmering abgereist war, ohne ein Wort der Aufklärung für ihn
zurückzulassen. Dabei war er sich völlig klar über den Ungerechte, ja
Unsinnige all dieser Beschuldigungen, die er sehr wohl als das erkann-
te, was sie waren, als Vorwände für das diesmal vorzeitige Erwachen
eines Hasses, das sich in früheren Fällen seinen Liebesgefühlen im-
mer erst allmählich beigesellt hatte. Was er jetzt in sich erlebte,
war nur ein Beispiel mehr für das unheimliche Auf und Nieder seiner
Empfindungen,die demselben Menschen gegenüber von opferbereiter
Zärtlichkeit und verzehrender Leidenschaft bis zu Abdeigung,Wider-
willen, Grimm, Wut und Todeswünschen xxx zu schwanken vermoch-
ten.Und wo ist am Ende der Unterschied, fragte er sich,zwischen einem
Todeswunsch und einem Mord?Gedanken vergehen; Taten sind unwiderruf-
lich. Ist das nicht eine Tücke der Vorsehung? Die Empfindung, durch
die eine Tat möglich geworden, ist längst erloachen, ist vielleicht
in ihr Gegenteil umgeschlagen; und die Tat bleibt getan. Nehmen
wir an, das renkteinte ich vielmehr gab, hätte nicht gewirkt. Am näch-
sten Morgen wäre sie wieder aufgewacht, lebte vielleicht heute noch
und kein Mensch ahnte, was geschehen ist oder vielmehr was beab-
sichtigt gewesen! Ich selbst würde es nicht ahnen, denn ich hätte
es ja vergossen. Ich habe es vergessen. Hab ich wirklich? Nein,
ich erinnere mich ja...
„Habe ich dich lange warten lassen? „fragte Otto und
die Gartentüre fiel hinter ihm ins Schloss.
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neuen Lebenshoffnungen, war ihm iegendwie entrückt; als er sich nach
ihr Bild ins Gedächtnis zurückzurufen suchte, erschien es ihm als
das einer nicht mehr ganz jungen, fanierten Person, in unordentli-
chem Morgenanzug, deren Ztige in seltsamer-Weise denen der armen
Klavierlehrerin gliehen; und er spürte einen dumpfen Grolle gegen
sie in sich aufsteigen. Er verübelte ihr, dass sie sich um ihren
Vater nicht genug gekümmert hatte, dass sie in einen alten Musiker
verliebt gewesen war, dass sie Zigaretten rauchte und besodders,dass
sie vom Semmering abgereist war, ohne ein Wort der Aufklärung für ihn
zurückzulassen. Dabei war er sich völlig klar über den Ungerechte, ja
Unsinnige all dieser Beschuldigungen, die er sehr wohl als das erkann-
te, was sie waren, als Vorwände für das diesmal vorzeitige Erwachen
eines Hasses, das sich in früheren Fällen seinen Liebesgefühlen im-
mer erst allmählich beigesellt hatte. Was er jetzt in sich erlebte,
war nur ein Beispiel mehr für das unheimliche Auf und Nieder seiner
Empfindungen,die demselben Menschen gegenüber von opferbereiter
Zärtlichkeit und verzehrender Leidenschaft bis zu Abdeigung,Wider-
willen, Grimm, Wut und Todeswünschen xxx zu schwanken vermoch-
ten.Und wo ist am Ende der Unterschied, fragte er sich,zwischen einem
Todeswunsch und einem Mord?Gedanken vergehen; Taten sind unwiderruf-
lich. Ist das nicht eine Tücke der Vorsehung? Die Empfindung, durch
die eine Tat möglich geworden, ist längst erloachen, ist vielleicht
in ihr Gegenteil umgeschlagen; und die Tat bleibt getan. Nehmen
wir an, das renkteinte ich vielmehr gab, hätte nicht gewirkt. Am näch-
sten Morgen wäre sie wieder aufgewacht, lebte vielleicht heute noch
und kein Mensch ahnte, was geschehen ist oder vielmehr was beab-
sichtigt gewesen! Ich selbst würde es nicht ahnen, denn ich hätte
es ja vergossen. Ich habe es vergessen. Hab ich wirklich? Nein,
ich erinnere mich ja...
„Habe ich dich lange warten lassen? „fragte Otto und
die Gartentüre fiel hinter ihm ins Schloss.