A228: Spaziergang, Seite 3

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"Mit einem Worte, du willst dich unterhalten," sagte Hans etwas
verächtlich.
"Nein, unter ihnen, als einer von ihren will ich leben. Ich will,
wie die Jugend, der Zufall und die Abenteuer mich führen, durch das ganze
Leben Wiens schlendern."
"Wenn dir nicht die Naivität dazu fehlen möchte", warf Max ein.
Gerade dir! Denn du bist ja doch nur ein veschämter Lokalpatriot.
"Mir?“
Du hast das kindische Bedürfnis der Zärtlichkeit für deine Nebenmenschen,
und da du nicht gross genug bist, um die ganze Welt zu lieben, so begnügt
sich dein bequemes Herz mit dem kleinen Fleck Erde, den du kennst."
"Dass ick es liebe, gebe ich zu, dass ich es kenne, nicht. Und ich
möchte es kennen! Was weiss ich denn eigentlich davon? Ich kenne die
Strassen, die Gebäude, ich kenne die Mundart, die der Wiener
spricht, ick kenne Typen, Gesellschaftskreise, ich kenne den Korso auf
dem Ring, das Treiben in Prater, die Burgmusik – aber was den Duft dieser
Dinge macht, und wieso es eigentlich kommt, dass uns oft in einem stillen
Praterspaziergänge, oder auf dem alten Platz vor der Minoritenkirche oder
aus einem Worte eines süssen-Wiener Mädels die ganze rührende und reiche
Seele der Stadt entgegenflutet, das, d as möcht' ich wissen!“
"Nun ja," sagte Hans, "das Geheimnis der Stimmung!"
"Darüber," meinte Stefan, "habe ich erst neulich einmal nachge-
dacht. Nicht wahr, die Tugenden und die Laster, die Talente und die Vor-
urteile unserer Ahnen gehen nicht verloren. Die erben sich fort. Warum
denn nicht auch die Stimmungen? Und in manchen Stunden, deren Lust oder
Weh im Dämmern des Unbegreiflichen verschrimmt, sind es vielleicht Stim-
mungen vergangener Jahrhunderte,die durch unsere Seele gehen; und wir er-
kennen die Träume nicht als die unserer Ahnen. Denn ihre Tugenden und
Laster hat man aufgezeichnet - nur selten ihre Träume."
"Mystiker", sagte Max, "das verwirrt nur. Unsere Augen müssen wir
schärfen, um endlich die Fäden zu sehen, welche zwischen den Einzelheiten
laufen. Zum Entstehen von Stimmungen ist eine gewisse Müdigkeit def Sinne
und der Gedanken notwendig. Wenn wir stets völlig wach wären, oder wenn
wir uns gar zu jener idealen Wachheit emporringen könnten, in welcher alle
Sinne vollkommen aufnahmsfähig wären, so gäbe es jene wallende Schleier
nicht, welche sich vor die Deutlichkeit der Dinge legen und uns die Töne
unserer Stimmungen bringen."
Es war dunkel geworden. Die Laternen in den Strassen waren ange-
sündet. Die Freunde schlugen den Rückweg in die Stadt ein.