A20: Flucht in die Finsternis (Der Verfolgte, Wahnsinn), Seite 77

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gibt. Plötzlich fühlte er eine würgende Angst in sich aufsteigen,
eine ganz neue und doch wieder die alte. Wieso fiel ihm der Brief
mit einem Male wieder ein? Was hatte der Brief denn heute noch
zu bedeuten? Er hatte doch nur Geltung für einen bestimmten Fall;
und dieser Fall lag nicht vor, konnte niemals eintreten. Er
nicht wahnsinnig; er war gesund. Aber was half ihm das, wenn ihn
Andere für wahnsinnig hielten? Was half es ihm,wenn am Ende der
eigene Bruder ihn für wahnsinnig hielt? Konnte es nicht geschehen,
dass gerade die wundersame Veränderung seines Seelenzustandes,
dieses Aufschweben, diese Gelöstheit,diese Heiterkeit seides Wesens
einem getrübten Blick die Anzeichen einer herannahenden Geistes-
störung vortäuschten? Vor wenigen Tagen erst hatte sich Marianne
ihm gegenüber mit wachsender Besorgnis über ihres Gatten blasses
und abgespanntes Aussehen geäussert;- als Robert daraufhin eine
brüderliche Mahnung an Otto wagte, war ihm das unverhältnismässig
Gereiste,fast Barsche in dessen Antwort aufgefallen, und in der
Erinnerung schien ihm sogar, als hätte in der letzten Zeit Ottos
Gang und Haltung einen eigentümlich veränderten Charakter angenom-
men. Sollte er kränker sein als ich, dachte Robert? - Er - der
Kranke - er allein?
„Was ist dir?” fragte Paula. “Habe ich dir weh getan?“
Er fasste sich. "Geliebte", flüsterte er und drückte
by
ihr die Hand. Aber seine innere Unruhe vermochte er nicht mehr
zu beschwichtigen. Er dachte an die tückische Schicksalsmöglich-
keit, dass gerade jetzt, da er sich dem Dasein wiedergegeben und
zu einem stillen Glück bestimmt wähnte, sein unglückseliger Bruder
sich zur Einlösung jenes furchtbaren Versprechens berechtigt und