A240: Arbeiten über Schnitzler, Seite 55

Neben solche Dämpfung und Andeutungskunst tritt bei Schnitzlei
in einigen Stücken, die zumeist in geschichtliche Ereignisse von Bedeu-
tung eingebaut sind und von diesen bedingt werden, ein bewegterer Ton.
Es ist natürlich, dass weltgeschichtlich wichtige Begebenheiten, wie
Kriege und Revolutionen, mit ihren Erschütterungen und Umwälzungen die
äusserste Kraftentfaltung des Dichters verlangen. Leider ist Schnitzler
zu schwach, diese einmal erkämpfte, überaus lebendige Position lange zu
zu behaupten. Das Primäre und Charakteristische für ihn bleibt das an-
deutende Spiel, die Dämpfung, der die Bewegtheit in seinen historischen
Dramen untergeordnet erscheint und daher in unserer Betrachtung zunächst
an einigen Beispielen zu erkennen gesucht werden soll.
Solche Bewegtheit findet sich in der deutschen Dichtung viel
leicht zum ersten Mal bei Klopstock- dann besonders in der Periode des
Sturm und Drang. Wir behaupteten, dass bei Schnitzler in den geschichtli-
ghen Dramen solche Bewegtheit zu finden sei. Mächtige Gegensätze erzeu¬
gen hier stärkste innere Spannung und grösste Wortwucht. Vor allem ist
es der Tod, der zum dramatischen Gegensatz und Steigerungsfaktor wird.
Geradezu unerhört ist oft das Ineinanderweben von Spiel und Wirklichkeit,
Schuld und Unschuld, Tat und Traum, Sein und Schein. Indem der Dichter
die Handlung mit geschichtlichen Ereignissen von ungeheurer Explosiv-
kraft umkleidet, erreicht er diese Überlebendigkeit, diesen atemrauben-
dem Wirbel von Komödienschein, Wahrheit und Wirklichkeit. Weil hinter
all' diesen Szenen und Begebenheiten als drohender Schlusstein der Tod
steht, vollen diese Menschen sich vorerst noch ausleben, wollen ihre
Begierden und brennenden Sehnsüchte im Zauber der ihnen noch gegebenen
Stunden stillen und bis zum letzten Zuge auskosten. Es ist, als ob
Schnitzler, da er aus seiner Wiener Welt heraustritt, die ihm eignende
dämmernde Müdigkeit habe abstreifen und nun statt der seelischen Vere
trämtheiten stahlblitzende Lebenswirklichkeiten von ungeheurer Theater-
wirkung habe schaffen müssen. Dem Todesmotiv paart sich oft ein Liebes-
motiv und beide bewirken, dass die Gestalten mit heisser Inbrunst sich
an das Leben klammern. Sehen sie dieses aber vorwirkt, dann suchen Sie
gewöhnlich in wilden Orgien und in ungestümer Hingabe an das Leben die
letzten Stunden zuverbringen. Schicksale von gewaltiger Art werden so
in einer Nacht - der letzten - durchmessen.
im "Schleier der Beatrice"
Hier tritt Schnitzler als Pathetiker grossen Stils vor uns hin. Das
Schauspiel führt uns in das Bologna zu Beginn des sechzehnten Jahrhun-
derts. Filippo Loschi, ein junger Dichter - er ist der Verlobte Teresi-
nas, der Schwester des Grafen Andrea -, dessen Ruhm bereits bis zumHER
zog der Stadt, Lionardo Bentivoglio, gedrungen ist, wird von diesem auf-
gefordert, am Abend im herzoglichen Palast als Zeichen seiner Kunst eini-
ge Lieder vorzutragen. Filippo lehnt dies ab, will er doch mit seiner Ge-
liebten, der sechzehnjährigen Bestrioe Nardi, der Tochter eines verstör-
ten Wappenschneiders, Bologna verlassen, das am anderen Morgen von Cesa-
rerBorgia, der schönen wilden Bestie, angegriffen und vernichtet werden
soll. Am Abendkkommt Beatrice zu ihrem Geliebten, der sie freudig in sei-
ne Arme schliesst. Filippo entwickelt ihr seine Pläne und erhält ihre ZU-
stimmung zu gemeinsamer Flucht. Sie erzählt ihm zuvor noch einen seltsa-
men Traum, in dem sie sich als die Herzogin auf einem goldenen Throne er-
blickt hatte, der das ganze Volk kniefällig gehuldigt. Mit dem Ausse des
Hörzogs war das strahlend schöne Mädchen aufgewacht. Kaum hört Filippo
diesen Traum, als er auch schon Beatrice gleich einer Dirne von sich
stösst. „Es fliessen ineinander Traum und Wachen“, hiess es früher schon
„Paracelsus“. Wie Heinz Mertens in seinem Buche
in Schnitzlers Einakter
„Unheldenhafte und heldenhäfte Menschen bei den Wiener Dichtern um 1900
einer Untreue in
zeigt, ist bei unserem Dichter Untreu
lippo—
vollimmer noch.
Wirklichkeit. Und