A240: Arbeiten über Schnitzler, Seite 58

Beatrice hat den Tod gefürchtet, jetzt aber sehnt sie ihn herbei und
fleht den Herzog darum an. Diesem kommt ihr Bruder Francesoo zuvor, der
die Schande, die seine Schwester der Familie gebracht haben soll, rächen
will. Er stösst ihr seinen Solch ins Herz.
Herzog Lionardo aber schreitet „dem neusten und gewaltigsten
Abenteuer“ entgegen, während bereite die ersten Pfeile in die Stadt reg-
nen und Cesare Borgias Truppen sich anschicken, Bologna zu brandschätzen
und zu zerstören.
Schnitzlers Gestaltungskunst hat stets dann die besten Früchte
gezeitigt, wenn er in kleinen Versspielen und Grotesken kurze nachdenk-
Jäthes Jösennaukhaitte fornt.Erthält,+wie+Alfred-Kerr,é-in.IttBände.
liche Lebensausschnitte formt. „Erhält“ wie Alfred Kerr im ersten Bande
seines Gesamtwerks S. II9 fffsagt, aus dem allgemeinen Dahinrauschen
der Erscheinungenbald ein ironisches, bald ein gedankenvolles Seelenbild
fest, das nur durch eines wahren Dichters Hand dem Strom entrissen werden
kann.“ Im „Schleier der Beatrice" versucht sich Schnitzler einmal an
einem grossen Dramenstoff und ordnet ihn in 5 Akte ein. Durch das ganze
Werk hebt ein sittlich-relativistischer Unterton. Leider; denn ohne ihn
wäre dieses Drama wegen des fein abgewogenen Aufbaus der Szenen und der
feierlichen Einfachheit der Sprache eines der besten Werke des Dichters.
Das Ethische hat hier überhaupt keine Bedeutung mehr. In der Welt, in die
Schnitzler uns führt, gibt es keine Ausblicke ins Ewige; nur Einbliche
ins Zeitliche, menschlich Bedingte. Beatrice ist ein fast willenlos in
ihr Schicksal gleitendes Geschöpf; in ihrer Amoralität flattert sie aus
den Armen des Geliebten über Vittorino, dem sie zum Altare folgen will,
zu Lionardo, dem Herzog von Bologna, dem sie ohne dass sie sich
ihrer Treulosigkeit auch nur im geringsten bewusst wird. Sie ist ein na-
türliches, anmutiges und unschuldiges Geschöpf, dass man sich des Dichters
Meinung zu eigen zu machen und wie er zu glauben versucht ist, für sie
gebe es keine menschlichen und sittlichen Gesetze, sie könne nichts Un-
rechtes tun und gehe kraft eines angeborenen Taktgefühls stets rein und
wahrhaftig durch die Welt. Aber haben nicht fast alle Werke Schnitzlers
diesen Relativismus? Für seine Menschen gibt es keine sittliche Norm:
Wer spricht von Schuld? Im Herbste fallen Blätter, im Frühjahr spriessen
andre! Sagt Ihr drum, dass einer schuldig ward? Ich bin es nicht!“ Es
herrscht die Welt leerer, höchstens schwermütig ertragener Schönheit. In
ihr bewegen sich Menschen, die mit dem Leben und der Liebe abenteuerlich
spielen, die nicht mitten in das Leben mit seinen Mühen und Sorgen hinein-
gestellt sind. So wächst die grösste tragische Wirkung aus kleinster Wur-
zel. Filippo als Held, misstrauisch gegen alle Daseinswerte, ist eifer-
süchtig auf die Träme der Geliebten. Unseres Dichters determinierendes
Motiv (nach Richardun Specht: Arthur Schnitzler“), wie kein Mensch zum an-
dern kann, welche Fernen auch noch die nächsten trennen, wie keiner vom
andern wirklich weiss“, tritt hier in Erscheinung. In dieser Einsamkeit des
Ichs, das sich zum andern Menschen hingezogen fühlt und im entscheidenden
Augenblick dochwieder von ihm wegspielt, vielleicht deshalb, weil die
Pflicht der Verantwortung mangelt oder, wie hier, ambivalente Empfindungen
mit Vergangenem, mit Ahnung des Zukünftigen und mit der unmittelbaren
Wirklichkeit in Beziehung gebracht werden, sind diese Menschen so reizbar
und empfindlich, dass sie von ihrer Umgebung Anpassung und Teilung des
eigenen Lebensloses fordern. So schon der Held der Novelle „Sterben“ der
sein Mädel mit sich in den Tod reissen will, so auch Filippe der mit sei-
nem Leben das der geliebten Beatrice vernichten will.
Wir haben hier nicht zu untersuchen, ob Schnitzler mit Filippo
zu identifizieren ist, sicher ist dass er als Arzt dem Traum eine gleich-
grosse, wenn nicht grössere Bedeutung zuschreibt als dem aufrich tigsten