A240: Arbeiten über Schnitzler, Seite 70

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Dichter und Philosoph.
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von Raoul Anernheimer
Dichter und Philosoph waren nie besonders gut auf ein-
ander zu sprechen und sind es in diesen letzten Nachkriegsjahren,
in denen die Kunst mit der Philosophie gebrochen zu haben scheint,
weniger denn je. "Weil er nichts zu sagen hat,erzählt er uns
eine Geschichte“, denkt der Philosoph, wenn er ein Buch des Dich-
ters aufblättert, und: "Weil er nichts zu sagen hat, philosophiert
er“, tröstet sich der Poet. Dennoch sind sie beide desselben
Geistes, nämlich des Geistes. Kind, und als solche brüderlich
auf einander angewiesen. Was bleibt von Plato,wenn man den Dich-
et
ter vom Denker abzieht,was von Euripides, wenn man seinen Vers
entallgemeinert? Molière hat bei Gassendi räsonnieren gelernt
und Schiller bei Kant postulieren. Ein Dichter wie Flaubert ist
nur im neunzehnten Jahrhundert möglich. Und warum? Weil der Pes-
simismus seiner Prosa, ebenso wie die Musik Richard Wagners die
Philosophie Schopenhauers voraussetzt,ohne den beide underkbar,
das heisst unmöglich wären. Auch Schnitzler, der wie Flaubert
zu Füssen seines Schreibtisches sterbend zusammensank; Schnitz-
ler, dessen letzter Roman Therese von einem österreichischen Flau-
bert sein könnte, war gleichfalls durchaus pessimistisches neun-
zehntes Jahrhundert. Freilich, er ahnte bereits das zwanzigste
und sah mit seinem unbestechlichen Geistesauge tief hinein.
Aber wie ahnte, wie sah er es? Berühmt geworden ist sein Aus-
spruch aus der Vorkriegszeit über die heraufrückende Jugend:
"weniger Geist und mehr Haltung“. Als sie dann aber plötzlich