A240: Arbeiten über Schnitzler, Seite 88

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Monsieur
sie sind nicht derselbe, so wenig wie ihre Herkunft und ihr Kleid.
So oft sich auch diese Welten begegnen, haben sie sich noch nicht
gemischt. Ihre Repräsentanten sehen einander im Burgtheater,in
der Oper, im Musikvereinssaal,bei der Praterfahrt, auf der Ring-
strasse, sie kennen einer den andern vom Sehen, vom Hören und aus
der Zeitung, aber sie verkehren nur flüchtig miteinander und be-
wahren dadurch bis 1914,wo der ganze alte habsburgische Staat um-
geschüttelt und durcheinandergeschuttelt wird, ihre seelische
Selbständigkeit und ihre Typenphysiognomie.
Dieses Nebeneinander und doch Gegenein ander in der
Gesellschaft, diese genaue Schichtung bei ständiger Vermengung
musste den in Wien geborenen Schriftsteller auf das Lebhafteste
beschäftigen; unablässig hat Schnitzler in seinem erzählenden
und dramatischen Werk, diese Elemente gegeneinander gestellt und
ständig in seiner Retorte gemischt. Der Adelige, der Dichter, der
Bürger.der Kleinbürger, die Adelige, die verheiratete Frau, das
süsse Mädel und die Dirne, alle diese Figuren, die jede einen
Stand, eine Wiener Gesellschaftsklasse repräsentieren,sind die
verschiedenen Farben aus der Palette. Ihr Gegeneinander, und
Zueinander, ihr Sich-Abstossen, Ihr sich-Anziehen,ihr Sieh-Vermen-
genwollen und doch sich nicht völlig Vermengen, ist das eigentliche
Thema aller seiner Stücke und vieler seiner Novellen,und ihre
Summe die Wiener-die österreichische Welt und Kultur. Sie ist die
wahre Atmosphäre seines Werks.
Dass hinter diesem Kulturkreise noch eine andere
Welt lebte und wirkte, die grosse anonyme Masse, hat Arthur Schnitz-
lers Jugendzeit kaum gespürt. Die soziale Frage war noch 1880