A240: Arbeiten über Schnitzler, Seite 89

nicht erfunden. Wien endete für die Literatur damals vor dem
Burgtheater,an der Ringstrasse,allenfalls noch im Innenkreis der
Vorstädte. Die Arbeiterviertel Favoriten, Ottakring, Brigittenau,
sie waren zwar faktisch da, aber man bemerkte sie nicht,man be-
trat sie nicht, Auch im dichterischen Werk hat sie Schnitzler
nie betreten, das Proletariat fehlt in seinem epischen Kosmos.
Beruf: Der Vater ist berühmter Arzt, Professor. Seinem
Wunsch zufolge studiert Arthur Schnitzler Medizin; einige Jahre
lang hat er tatsächlich auch Praxis ausgeübt. Nicht mit viel Nei-
gung,aber doch mit inner am Gewinn: etwas ist ihm davon in seinen
dichterischen Schaffen geblieben, der ruhige, klare, klinische
Blick, der bei jeder Erregung die Ursache,bei Jeder Ærscheinung
die Wurzel sucht,die Kunst des Beobachtens und genauens Belau-
schens. Dieser nur ganz ihm gehörige,diagnostisch genaue, dieser
gleichzeitig gütige und doch zweifelnde Dichterblick Schnitzlers
hat sich am Medizinischen geschärft. Dort hat er gelernt, jeden
Fall als Einzelfall zu betracht en, jeden Organismus und jede See-
le als etwas Einmaliges. Er hat Psychoanalyse betrieben als
Dichter,ehe sie von seinem um wenige Jahre älteren Kollegen,
Siegmund Freud, in Form und Logik erfunden war. Tiefenkunst, die
eine und die andere, nur transponiert bei Schnitzler vom Theore-
tisch-Konkreten ins Paychisch-Individuelle. Viele seiner Novellen
sind wahrhaft "Behandlungen", ein "ärztlicher Fall", mit derselben
Liebe, mit derselben Eindringlichkeit, mit derselben klaren und
klinischen Beobachtung, Kunst der Anatomie im Seelischen geübt.
Und nichts vielleicht so sehr als die jahrelange medizinische