B43: Hofmannsthal, Hugo von_1 an HvH, Abschrift, Seite 75

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Militär eintrifft:-
Mit dem Arbeiten gehts weiter leidlich, ja gut.Mit
der stärksten Anteilnahme, die auf irgend einem tie-
fern Grund schliessen lässt, in den ich noch nicht
ganz hinabblicken kann, lese ich im Vehse die Zeit
des fünften Karl. Seite für Seite hat man
die Empfindung:undramatisierter Shakespeare.-
-Die Hebbel-Tagebücher habe ich nun zum zweiten Male
gelesen; meine Bewunderung ist womöglich noch ge-
stiegen-aber menschlich hab ich mich von ihm diesmal
entfernt. Es ist ein prachtvoller Geist,in beinah
ununterbrochener Arbeit ; aber man dürfte das ganze
auch von 1863 nach rückwärts lesen-ohne dass Verständ-
nis oder Genuss darunter litte. Was mir die Gesell-
schaft von weit geringeren manchmal werter macht
als die seine ist, dass es mir erlaubt ist einer Ent-
wirklung zuzuschauen, und das ist doch immer das schön¬
ste und packendste, was wir erleben können. Es ist un-
heimlich in einem Menschen auch blättern zu können,
wie in einem Aphorismenbuch. Wenn mir ein Band aus
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einer Existenz fehlt, möchte ich vor dem nächsten wie
vor einem Wunder stehen müssen und fragen: wie bist du
dahin gekommen--?
Leben Sie wohl und schreiben Sie mir.
Sagen Sie auch Wassermann, falls Sie ihn sehen, dass wir
hier das Los der Juden mit grossem Vergnügen gelesen
haben. Es ist ein schönes Vorwort zu einem Buch, das
heute glaub ich keiner schreiben kann, weder Christ noch
Jude.—
-Und wird Richard bald fertig mit dem Stück? Wie gehts
ihm?
Grüssen Sie alle. Herzlichst Ihr