A100: Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 71

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Der Arzt.
Wenn Sie's gefunden, dann wird es wohl seinen
Preis wert gewesen sein, auch wenn er höher gewresen
wäre.
Marie.
Ob ich's gefunden...? Oh ja! Tausendfach! Ja,
ich hab's gefunden! In dieser einen Nacht hab' ich er¬
lebt, was andern Frauen nicht in tausend Tagen und
Nächten geschenkt ward.... Alles Glück und Elend
der Welt hab' ich mit angeschaut und selber ausgekostet...
Ich habe gesehen, wie Frauen betrügen, locken, lügen.
ehrlich sind und sterben, — ich habe gesehn, wie Männer
zittern, spielen, höhnen und töten. Und was ich sah,
war nur wie ein Vorspiel zu meinem eigenen Schicksal.
Dann erst fing das Leben an,... denn erst lebt ich
meine eigene Seligkeit und meine eigenen Verzweiflung...
Ob ich das Leben fand?... Ich glaube wohl.
Glücklich bin ich gewesen wie kein menschliches Wesen
jemals war, und elend wie keines, — bin geliebt worden
wie eine, die man mit Schmerzen ersehnt, — bin ver¬
lassen worden wie eine Dirne, die man sich mitgenom¬
men hat bei Nacht.... Ich hatte gemordet für einen,
den ich liebte — und er ist für eine andere sterben
gegangen. Und ick lebe — ich lebe noch!... Wie
+ guleubt sel
mein eigenes Gespenft schleich' ich durch die Welt, und
mir graut vor mir selbst.... Wie darf ich denn..
wie darf ich unter andern Menschen herumgehen, ein-
saugen den Duft des Waldes, auf blühender Wiese
liegen und in den Himmel schau'n?... wie darf ich
denn?... Leben und nicht daran denken, woher ich
komme — vergessen all das Ungeheure, als wär' es
nie gewesen... auf Minuten nur, aber vergessen doch!
... wie darf ich?! Ja, ich habe das Leben / das mich + gefrie
rief, aber in seiner Seligkeit, in seinen Schmerzen,
in
hauchte es mir Tod entgegen.... Und wenn es dann
wieder emporsteigt -- wie Schatten zuerst — wie
wankende Bilder toller Träume, allmählich Umriß ge¬
winnt.... mich anstart mit lebendigen Augen —
wieder da ist mit des Gelebten, des unwiederbringlich
Gelebten klammernder Macht — da schreit's mir in
die Seele: — Wenn du's vermagst empor zum Himmel
zu schauen gleich andern, ohne daß er sich dir verfinstert,
wenn du den Duft von Wiesen und Wäldern ein-
trinkst, und er fault dir nicht auf den Lippen, — wenn
du dich in den Frieden von Himmel und Erde stiehlst,
die dich nicht mehr haben wollen, — wenn du es
wagst weiterzuleben, wie Menschen, die nicht alle Süßig¬
keit und alle Schrecken der Welt ausgekostet — — was
war denn dies alles?)... was bist du für ein
Wesen, das aus solchem Schicksal wieder emportaucht
wie aus einem wilden Traum?l.... und wacht —
und lebt?