B17: Brandes, Georg 17 (2) Schnitzler an Brandes, Seite 3

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immer sein sollte, und nur so selten ist, erkennen gelernt.
In diesen "Hauptströmungen der Literatur des XIX. Jahrhunderts" haben
Sie eine Kultur- in gewissem Sinn eine Weltgeschichte, denn es war
die Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts, die Sie vor uns abrollen
liessen. Wir sahen, wie die Welt sich in den Geistern des 19.Jahr¬
hunderts spiegelte, wie sie sich in den verschiedensten Köpfeh spie-
gelte, und so erfuhren wir mehr auch von den politischen Zuständen
der betreffenden Epoche, als uns in irgend einer fachlichen Weltge-
schichte gezeigt zu werden pflegt.
In anderen Stimmungen wird
Und Sie schufen Gestalten, wie auch ein Dichter sie nicht anders
schaffen könnte, wenn Sie uns die einzelnen Dichtergestalten der Ro-
mantik, des jungen Deutschland, des französischen Emligrantentums
vor Augen stellen und was diese Gestalten so lebendig machte, das war,
dass keine isoliert vor uns stand, dass sie einander die Hände sch
reichten, ebenso wie Sie auch niemals irgend ein literarisches Werk
als isolierte Erscheinung betrachteten, sondern immer an irgend einem
Zusammenhang mit den andern Werken des betreffenden Dichters und alle
diese Werke wieder in einer Beziehung zu seiner gesamten Existenz,
zu seiner Entwicklung und zu der Epoche, innerhalb deren er wirkte.
Ja, der Beziehungen, der Zusammenhänge, der Atmosphäre, des Horison-
tes, des Erdreichs waren Sie sich in jedem Augenblick bewusst, wel-
ches Detail es auch war, von dem Sie eben zu reden hatten.
vor ich ihnen, vor einem Darge, wer immer darin ruht, sind wir gewohn
Kontinuität im räumlichen wie im zeitlichen Sinn,- sie war und ist
immer für Sie vorhanden. Der Geschichtssinn, im weitesten Sinn des
Wortes, erschien mir stets als das Wesentlichste Ihres Genies. Die-
ser Geschichtssinn, der sich keineswegs bei jedem Geschichtsforschehr
bei jedem Geschichtslehrer findet, der eben eine angeborene Gabe für
sich ist, und dessen Vorhandensein erst den wahren Historiker be-
kundet, xxx und über seinen Kutscher dieselbe Sonne scheint, wie
Die meisten Menschen, für uns alle in unseren schwächeren Stunden
ist die Vergangenheit so sehr wir sie auch zu erfassen trachten,
doch beinahe niemals lebendig in dem Sinn, dass wir sie als gleich-
wertig mit der wegenwart zu empfinden vermögen. Denken wir ver-
gangener Epochen, vergangener Persönlichkeiten vorgangener Ereignis-
se, so erscheinen uns doch alle diese Dinge irgendwie als wenn wir
ein Kostümstück auf dem Theater sehen. In anderen Stimmungen wird
uns die Vergangenheit gleichsam einen Zug von Gespenstern bedeu¬
ten, kurzum, wir vermögen uns nie vollkommen von dem Bewusstsein
zu emaripieren, dass es sich um Verstorbene handelt. Und wir stellen
uns nun einmal Leuten, die den Tod hinter sich haben, unwillkürlich
anders ein als solchen, die ihm noch entgegengehen. Ich will nicht
von einem Michelangelo, nicht von einem Caesar oder von einen
Amenhote sprechen. Aber auch einen Lastträger, der zu Zeiten von
Julius Gaesar durch die Strassen Roms ging, dem Farbenreiber
Raphaels, den Kutscher, der Voltaire an jenem grossen Abend ihn zum
Theater führte, sehen wir anders als wie einen Lastträger von heute,
einen Farbenreiber von heute, als wir z.B. den Chauffeur sehen, der
Georg Brandes vom Bahnhof ins Hotel führt. Einfach der Umstand, dass
diese Individuen tot sind, erfüllt uns mit einem gewissen Respekt
vor ihnen, vor einem Sarge, wer immer darin ruht, sind wir gewohnt,
den Hut zu ziehen. Und diese Distenz der Ehrfurcht, der Unheimlich-
keit und Endgültigkeit verändert uns irgendwie des Bild eller Men-
schen, die nicht mehr sind. Der Historiker von innerem Berufe ist
von derertigen Stimmungen, von derartigen seelischen Irrtümern frei.
Er fühlt ununterbrochen, dass über Geeser, wie übr den Lastträger,
unsch, wenn durch ein
gleichen Zufall all Ihre ande¬