A20: Flucht in die Finsternis (Der Verfolgte, Wahnsinn), Seite 23

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der Traum auf dem Sterbebett. Er erinnerte sich eines Einfalls, den
Leinbach vor Jahren in grösserer Gesellschaft ganz ernsthaft, ja
mit einer gewissen Wichtigkeit, vorgebracht hatte. Er hatte damals
einen Beweis gefunden, dass es eigentlich keinen Tod auf der Welt
gebe. Es sei ja zweifellos, erklärte er, dass nicht für Ertrinkende,
sondern dass für alle Sterbenden im letzten Augenblick das ganze
Leben mit einer ungeheueren, für uns Andere gar nicht zu erfassen-
den Geschwindigkeit sich noch einmal abrolle. Da nun dieses erinner-
te Leben natürlich auch wieder einen letzten Augenblick habe, und
dieser letzte Augenblick wieder einen letzten,und so weiter: so
bedeute das Sterben im Grunde nichts anderes, als die äwigkeit -
unter der mathematischen Formel einer unendlichen Reihe. Robert
erinnerte sich noch, wie erbittert Otto dieses Gefasel zurückgewie-
sen hatte; Robert aber, ohne sich für Leinbachs Auffassung geradezu
einzusetzen,hatte keineswegs vermocht sie völlig unsinnig zu fin-
of
den. Wenn jene Erklärung stimmte, so wusste man freilich nie, zum
wievielten Mal man irgend eine Sache durchlebte, und überdies war
es gleichgültig, da man ja alles unendliche Male zu durchleben ver-
dammt war. - Ach Ansinn über Unsinn! Eine fragwürdige Erscheinung,
dieser Leinbach und als Arzt überhaupt nicht ernst zu nehmen! Den
konnte man natürlich anschwindeln,wie man nur wollte; es war keine
Kunst. Mit Otto würde man kein so leichtes Spiel haben...
Das Tor des Gasthofs öffnete sich vor ihm. Als er die
Treppen hinaufstieg,standen plötzlich wieder,wie vor beinahe zwar
zig Jahren, die Wände eines kleinen alten Palastes um ihn; und das
verblichene Rot des Stiegentsppichs leuchtete wie Furpur unter sei-
nen Füssen. Zum wievielten Male schritt er wohl diese Treppe jetzt