A20: Flucht in die Finsternis (Der Verfolgte, Wahnsinn), Seite 88

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nun mit einigem Staunen inne, dass er im Laufe der eben verflos-
senen Stunden seiner Braut gar nicht gedacht hatte, und dass sie
ihm jetzt, da er sich ihr Bild ins Gedächtnis rief, nicht scharf
umrissen, als die bedeutungsvollste Erscheinung seiner gegen-
wärtigen Existenz, sondern dass sie in verschwommenen Linien, als
gehöre sie einer vergangenen Periode seines Lebens an, vor ihm
auftauchte. Er sah sie von Schneeflocken umweht, auf einem klei-
nen Balkon stehen, die Hände auf die Brüstung gestützt und nach
nach unten blickend. Doch lag dort nichts, was Jenen neulich ge-
schauten Vorstadtgärten im geringsten glich, sondern eine nebel-
haft zerfliessende italienische Stadt,in der er vor vielen Jah-
ren auf der Hochzeitsreise mit seiner Gattin umhergewandelt war.
Aber keinerlei Sehnsucht wurde wach in ihm,weder nach jener
Längstächingeschwundenen, noch nach der gegenwärtig Geliebten.
Und wenn er jetzt überhaupt jemanden in seine Nähe, ja an seine
Seite wünschte, so war es, wie er mit Befremden inne wurde, niemand
anderer als jene ärmlich verblühende Klavierlchrerin,die er ver-
gessen zu haben glaubte. Und er empfand, dass von allen Menschen,
die lebten, sie vielleicht das Wesen war, das am allerstärksten zu
ihm gehörte und dessen Schicksal mit dem seinigen geheimnisvoll
zusammenstimmte; und dass ihre beiden Daseinslinien sich einmal
hatten kreuzen müssen, um dann sofort wieder für alle Zeiten aus-
einandersustreben, das schien ihm einen verborgenen Sinn, eine in
die Zukunft weisende Bedeutung in sich zu bergen. Und das Bild
der blassen Frau begann allmählich solche Lebendigkeit zu gewin-
nen, dass ihm ward, als sähe er sie draussen vor den Fenstern der
Wirtsstube leibhaftig vorübergehen und langsam in den entlaubten
Ausn verschwinden. Er fragte sich: War dies eine Warnung, eine