A240: Arbeiten über Schnitzler, Seite 62

Grundm flive. So auch hier. Wie schon früher im „Schleier der Beatrice“
oder im Grünen Kakadu" kann auch hier im „Jungen Medardus“ kein Mensch
zum andern, kennt keiner seinen Nächsten, vermag niemand die ungeahnten
Schicksalsverknüpfungen zwischen diesen Menschen, die einander nicht ken-
nen, auch nur zu ahnen. Am Ende dieses schicksalhaft gebundenen Daseins
macht dann der Tod seine Rechte geltend und glüttet mit rauher oder sanfter
Hand die wild aufgerauschten Wogen des Lebens. Schnitzlers Menschen stehen
auf der höchsten Stufe der individualität und wagen sich niemals aus den
ihnen vorgezeichneten Geleisen hinaus. Im grossen und ganzen sind sie sich
alle gleich, mögen sie nun Tillipo Loschi und Henri oder Beatrice und Helen
ne heissen. x Sie ringen nach höheren Zielen und schreiten selbstbewusst
durch die Bewegtheiten einer durch besondere Umstände sehr stark erregten
Umwelt, um schliesslich von einem Schicksal, das die Herzen zu brechen
vermag, jäh aus ihren Illusionen aufgeschreckt zu werden. So ist es auch
im "Ruf des Lebens", wo Leben und Tod aufpeitschende Emotionen bewirken.
Hierüber schreibt Hermann Bahr in seinem „Tagebuch“ vom 19. Sept. 1905:
Der,Ruf des Lebens' heisst Schnitzlers neues Stück. Ein Name, der mich
wunderbar ergreift. Alles, was wir sind, wir von 1860, und wollen und
wähnen ist darin und man sollte auf das Kapitel, das einmal erzählen wird,
was wir waren, dieses Wort setzen, Der Ruf des Lebens. Es ist ein Ruf
nach dem Leben, ein keuchender Aufschrei aus geschlechtlicher Gebundenheit
nach gierig ersehnter Befriedigung. Das ganze Geschehnis mutet uns an wie
ein Suppenspiel, wie ein überlauter „Reigen“ von Sehnsucht, Liebe, Verrat,
Mord, Eigenliebe, Hasse und Genussucht. Dann aber glätten sich jäh die
Wogen der verschlungenen Gefühlsgänge. Zweimal hat bisher der Tod eine
grosse Schuld gesühnt, jetzt wird all! dies Entsetzliche gelöst. Als ein
gütiger, verstehender Freund tritt der Arzt, eine der Hauptpersonen, vor
Marie, die zweifach Schuldige hin, die den Vater um des Geliebten willen
gemordet und dem Geliebten vor dessen Tode ihre Unschuld in schamloser
Lust geboten hat. Er spricht zu der verzweifelten Frau:-Sie leben, Marie.
und es war... Auch dass sie über Feld und Wiesen spazieren, dass Sie Bru¬
men pflücken, dass einer versöhnt von Ihnen Abschied nahm --, dass Sie
hier mit mir reden unter dem leuchtenden Mittagshimmel, ist Leben. Nicht
minder als es jene Nacht gewesen ist – – Und wer weiss, ob Ihnen nicht
später - viel später einmal - aus einem Tag wie der heutige,der Ruf des
Lebens' viel reiner und tiefer in die Seele klingen wird als an jenem an-
dern, der-so-furchtbare-Namen an dem Sie Dinge erlebt haben, die so
furchtbare und glühende Namen haben wie Mord und Liebe.“ Nach allem Wahn,
aller Übersteigerung schwebt ein süsser, verzeihender Friede, einer
plötzlich abgedämpften Musik gleich, über die Bühne. Und dieser gedämpfte
Ton ist über alle Formen der Bewegtheit hinweg Schnitzlers ureigenster
Besitz. Mit ihm schuf er jene unendlich zarten, leicht dahingleitenden
Gesellschaftsstücke, denen jedoch, wie wir im folgenden sehen werden,
die Sprachgewalt und der durch Gegensätze bedingte wirksame, wuchtige
Rhythmus der historischen Dramen fehlt
Es ist nun keineswegs so, als ob diese Scheidung und Zuord-
nung in historische und Gesellschafts-Dramen unbedingt in jedem Falle
auch eine Trennung der Begriffe Bewegtheit und Dämpfung bedeuten müsste.
Wie wir im Ruf des Lebens kurz zeigten, drängt eine überbewegte Handlung
naturnotwendig zu einem gedämpften Abschluss. So dürfen wir uns auch nicht
wundern, wenn in manchen Wiener Gesellschaftsstücken an einigen Stellen
bewegtere Töne anklingen; Schnitzler beherrscht eben alle Instrumente und
vermag auf ihnen Moll und Dur einerseits zu vertauschen, anderseits neben
ein Forte sogleich ein piano zu setzen. Deswegen bleibt aber das Primäre
für ihn doch die Dämpfung, wie wir etwa in der Klassik nach Winkel-